Die Referenten schätzen einander. Sie haben wechselseitig ihre Werke rezensiert und das des jeweils Anderen zur Lektüre empfohlen. Sie sprechen zugleich Differenzen an, die vertiefende Erläuterungen verdienen.
Recht gut vorbereitet ist, wer die Rezensionen vor der Veranstaltung liest:
https://www.labournet.de/…/05/Ebermann-Verhaertung.pdf
https://www.sozonline.de/…/covid-19-und-die-angst-vor…/
Die Autoren sind vereint in der Gegnerschaft zu allen Varianten der Verharmlosung. Sie positionieren sich gegen die Ideologie der akzeptablen „Kolleteralschäden“, nach der der „Preis unseres Wohlstands“ nun einmal ein gewisses Risiko, daß man „Freiheit“ nennt, beinhalte.
Sie verwerfen eine Normalität, die mit dem Virus zu leben lernen will – jedenfalls sofern die intensivmedizinischen Abteilungen nicht überlastet sind und die Sterberate keine gewaltigen Ausschläge aufweist; die benötigte Zahl an Lohnarbeitern nicht unterschritten wird.
Ob dieses Kalkül, das nebenbei das Leiden an „Long Covid“ bagatellisiert, aufgeht, oder das Entstehen noch verheerenderer Mutaten befördert, die Impfstoffe unwirksam machen, gehört erwogen, nicht verdrängt.
Verdrängt durch das dumme Wort von der „Naturkatastrophe“. Ins Abseits gestellt, scheint alle Erkenntnis, dass diese Pandemie Vorbote künftiger ist, die ihre Ursache in Landübernutzung, Massentierhaltung, Zerstörung „unberührter Natur“ haben.
Wer die Nachrichten aus unterschiedlichen Regionen der Welt verfolgt (also auch aus den Armutsregionen mit Impfquoten die so niedrig sind, weil „wir“ weder Patente noch sonstwas zu verschenken haben) kann es weder für Alarmismus noch für gewagte Prognose halten, dass an Covid19 noch mehr Menschen krepieren werden, als bisher gestorben sind.
Beide Referenten changieren in ihren Arbeiten, wie es sich für dialektisches Denken gehört, zwischen…
Einerseits:
Dem Befund, „die Pandemie verschärft die für die Klassengesellschaft schon immer existierende soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod“ (Hien). Das verlangt Parteinahme für die Ausgebeuteten und Ausgespuckten – in zahllosen Positionierungen zum alltäglichen Handgemenge und ihre Verteidigung gegen die „Dämonisierung der Prolls“ durch die nur angeblich so tugendhaften gehobenen Schichten.
Andererseits:
Der Feststellung von Häßlichkeiten, Verhärtungen, Denunziation von Vorsicht und Angst als Makel von Weicheiern.
Gesellschaftskritisches Begreifen solcher Phänomene, heißt ihren Zusammenhang mit der unhinterfragten Effizienz kapitalistischen Produzierens berücksichtigen, auch den Zwang seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, sowie die staatliche Bewirtschaftung des Menschenmaterials und die Dienstbarkeit vieler Ärzte für diesen Zweck.
In einem langen historischen Dressurakt ist so die Verwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang gelungen; jene Selbst-Heroisierung von Lohnabhängigen. Der Stolz das auszuhalten und die Verachtung derer, die den Anforderungen nicht gewachsen sind oder sein wollen.
Diese subjektive Verfasstheit hat Auswirkungen auf das pandemische Geschehen. Die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften WOLLTEN – bei aller Richtigkeit linker Beschreibungen der besonderen Gefährdungen dort und auf dem Weg dorthin – zur Arbeit.
Die Hoffnung, die Ambition (oder die Illusion), sie zu Trägern einer Unterbrechung des nicht unbedingt nötigen Wirtschaftsgeschehens zu machen, scheiterte.
Man kann den Versuch als ehrenwert bezeichnen (was gewiss die Position Hiens ist), oder ihn „solidarisch“ aber dennoch scharf kritisieren (Ebermann).
Aber sein Scheitern zu leugnen, ist wahrheitswidrig. Oder?
Ähnliches gilt für die Impfbereitschaft. Es ist angemessen und relativ einfach, sich schroff gegen die Manifestationen der Querdenker zu positionieren – was nun wirklich nicht alle, die sich als links bezeichnen tun.
Und es ist wesentlich komplizierter, die Impfverweigerung männlich-gestählter Subalterner analytisch zu erfassen. Die Abwehr und Ignoranz gegenüber den Gefahren für sich und andere enthalten – und meist das Postulat implizieren, die unproduktiven Alten mögen sich nicht so anstellen mit dem Sterben.
Rahmen und Grenzen des staatlichen Gesundheitsschutz fasst Wolfgang Hien bündig zusammen:
„Es wurde immer so viel Schutz durchgesetzt, wie es den herrschenden ökonomischen und politischen Eliten bevölkerungspolitisch opportun war.“
Das ist nicht staatsfromm und so wahr, wie es deshalb unzulässig ist, dem deutschen Staat hauptsächlich „Versagen“ (Fehler, Versäumnisse, Korruption) vorzuwerfen, statt funktionsgerechtes Agieren (das sich auch noch damit zu schmücken weiß, dass die bislang 95.000 Toten, doch im Vergleich mit anderen Nationen, IMMERHIN, „uns“ ganz gut durch die Seuche kommen ließ.
Besagte Komplizierheit erwächst aus der Konstellation, dass der Staat die Vernunft zu verkörpern scheint, gegen jene, die – befeuert von der BILD-Zeitung bis zu mörderischen Virologen – alle oder fast alle Restriktionen fallen sehen wollen.
Vielleicht liegt in dieser Gemengelage – die zu so mancher Romantisierung der unteren Schichten unter dem Label „Neue Klassenpolitik“ quer liegt – der tiefste Grund, warum so viele Linke eher schweigen oder ratlos sind, wenn es um die Pandemie geht?
Eine Veranstaltung des
Veranstaltungskollektivs Westend
in Kooperation mit der
Redaktion 17 Grad
und der
Antifa NT.
Unkostenbeitrag:
8 € (+ x Spende)
5 € ermäßigt
Es gilt die sog. 2G-Regel (Geimpft/Genesen) in unserem Veranstaltungssaal (Nebenraum).
Gasthaus Augustiner-Bürgerheim
Bergmannstr. 33, München
www.kalinka-m.org/events/gesellschaftskritik-in-der-pandemie-thomas-ebermann-wolfgang-hien/